Wolfgang Tillmans I Deer Hirsch I 1995 I C-Print
Courtesy Galerie Buchholz Berlin/Köln

In einem perfekten Augenblick (Gerd Holzwarth)

Über Landschaftsarchitektur als Kulturschaffen

In einem perfekten Augenblick, in dem sich gleichermaßen größte Spannung und tiefer Friede ausdrücken, scheint es so, als würden sich zwei Wilde begegnen. Das Bild zeigt die Begegnung eines jungen Hirsches mit einem jungen Mann, irgendwo am Strand, vielleicht an der Ostsee. Im Hintergrund ist eine Siedlung. Mehrere Personen gehen am Strand entlang und betrachten aus der Ferne vermutlich das, was sich im Vordergrund des Bildes ereignet.

Der Hirsch steht fest auf beiden Vorderläufen. Nur der hintere, rechte Lauf ist noch angewinkelt. Auf diesen könnte das Tier jeder Zeit zurück fallen, sich drehen, flüchten. In dieser Begegnung zeigt die Körperhaltung des Hirsches die größte Neugier und auch Vertrautheit mit den Menschen. Der angewinkelte Lauf verrät jedoch auch die Furcht und Scheu des wilden Tieres. Näher werden sich die beiden niemals kommen!

Der junge Mann, vermutlich Anfang zwanzig, trägt lässige Freizeitkleidung und Flip-Flops. Zusammen mit dem Rucksack, den er auf dem Rücken trägt, und der zweiten Tasche, die am Boden steht, lässt sich wohl sagen, dass er mit Freunden ans Meer gefahren ist. Kleidung, Frisur, Gestik, alles verrät, dass er eher nicht in diese Umgebung gehört, auch nicht zur Siedlung im Hintergrund.

Der Künstler Wolfgang Tillmans hat als Chronist einer ganzen Generation der 90-er Jahre die urbanen Subkulturen und Lebensformen der Zeit dokumentiert. Dabei ist die Unterscheidung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten kaum möglich, weil Tillmans in Bildern großer Intimität die Grenzen aufhebt. Er lebt mit diesen Menschen, in dieser Zeit, in diesen Räumen. Trotzdem entsteht nie der Eindruck einer platten Direktheit. Auch seine Bilder der Raves und der schwulen Lebenswelt sind zärtliche Bilder, in denen die Vertrautheit, Nähe und Komplizenschaft mit den Dargestellten spürbar wird. Viele seiner Freunde begleitet er mit der Kamera weit über dieses Jahrzehnt hinaus.

Das für mich Bemerkenswerte an diesem Bild ist die völlige Auflösung des Widerspruchs und der Unmöglichkeit von Kommunikation.

Der Hirsch ist ikonografisch und metaphorisch eindeutig konnotiert. Der Herr des Waldes steht für die Gewaltigkeit der Natur, Potenz und Kraft. Geweihteile tauchen in Wappen auf, und Jagdtrophäen sind lange Zeit ein Zeichen von Herrschaftsgewalt, da das Jagen von Rot- und Damwild über Jahrhunderte ein Adelsprivileg ist. Damit enthält der Begriff des Wilden auch noch etwas anderes, das über das unkultivierte, ungezähmte hinaus reicht. Paradoxerweise erkannte man gerade im Adelsprivileg für die Jagd lange Zeit auch an, dass es Wesenhaftes in unserer Umwelt gibt, über dessen Leben und Sterben wir nicht zu entscheiden haben. Zumindest der einfache Mensch stand nicht über allem, und war auch nicht unmittelbar im Zentrum der Welt. Damit bedeutet „wild“ auch, nicht den Regeln des (anderen) Systems unterworfen zu sein. Wobei es für die Bezeichnung eines Wesens oder einer Gesamtheit von Wesenheiten belanglos war, ob sie augenscheinlich eine eigene Ordnung hatten, eigenen Gesetzen folgten, oder andere Vorraussetzungen hatten. Das Wilde ist immer das Andere, unabhängig von dessen eigenem Bezugssystem. In der Antike waren für die Griechen alle, die kein griechisch sprachen, Barbaren. Die Kolonialherren begründeten Jahrhunderte lang ihre Herrschaft damit, dass sie die gesellschaftlichen Systeme der von Ihnen beherrschten Völker nicht als Solche anerkannten oder in ihrer ordnenden Existenz völlig bestritten. „Sie sind wie die Tiere.“ Mit diesem Satz zeigt sich auch, dass die ordnenden Prinzipien der Natur nicht als Ordnung im Sinne der Gesellschaft anerkannt werden.

Der Gegensatz von Natur und Kultur ist unüberbrückbar. Natur kann nur durch den Menschen und starke Eingriffe kultiviert werden. Wo das nicht der Fall ist, herrscht Wildnis. Umgekehrt hat sich der Mensch aus der Sphäre der Natur verabschiedet. Der Fortschritt in der Entwicklung von Gesellschaften wird, mit allen für unsere Welt verheerenden Folgen und trotz immenser kultureller Leistungen, bis heute daran gemessen, wie sehr sich eine Gesellschaft von der Natur entfernt und sich über die Natur erhoben hat. Zugleich kehrt in den gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, die Sehnsucht nach individueller Freiheit und Unmittelbarkeit in den Begriffen von Wildnis und Exotik wieder. Durch die romantische Verklärung einer Natur, in der keine vom Menschen auferlegten Gesetze gelten, wird nach der völligen Durchdringung der Umwelt mit kapitalistischen und industriellen Strukturen, die Natur zum Sehnsuchtsort des Menschen.

Zurück zur Arbeit von Tillmans. Mit dem Hirsch und dem Menschen begegnen sich also zwei Wilde, und das gleich in einer zweifachen Bedeutung. Wild sind sie füreinander, weil sie in verschiedenen Bezugssystemen und nach unterschiedlichen Gesetzen leben, die dem jeweils anderen fremd sind. Sie sind aber auch auf andere Weise „wild“. Der Hirsch gehört zur Natur, und damit in die Sphäre all dessen, was sich selbst nicht weiß. Wir bezeichnen es, wir definieren es, wir haben einen Begriff davon. Deshalb tragen wir auch die Verantwortung für den Zustand der Natur und die natürlichen Ressourcen. Die Natur kann sich selbst nicht schützen, weil sie sich selbst nicht bewusst ist. Es ist unter Hirnforschern, Biologen und Philosophen strittig, ob Tiere ein Bewusstsein haben. Manche Forscher glauben dies ausschließlich bei hoch entwickelten Säugetieren oder Primaten nachweisen zu können. Unstrittig ist dagegen die Unmöglichkeit einer Kommunikation über abstrakte Inhalte, welche nur das selbstbewusste und selbstreflektierte Denken hervorbringen kann. Der Hirsch ist also wirklich wild! Er weiß es nur nicht, oder besser gesagt, er ist wild, weil er es nicht weiß.

Dagegen scheint der junge Mann mit seiner das Geweih des Hirsches nachahmenden Geste von sich sagen zu wollen: „Ich bin auch wild“. Und hier entspringt der Wildnisbegriff der anderen, zuvor beschrieben Sphäre. Er entspringt einem denkenden Bewusstsein, einer Selbstreflektion. Er entspringt auch einem Wollen und Sehnen, einem tanzenden Aufstand gegen eine Gesellschaft die uns in zu frühen Jahren in die geordneten Bahnen all der Funktionen drängen möchte, die angeblich ein erwachsenes Leben ausmachen. Tillmans hat diesen tanzenden Aufstand gelebt und fotografiert.

–Auch hier!-

Es bleibt der intrinsische Widerspruch: ein Wesen, das sich selbst bewusst ist, so abstrakt denken kann und spontan zu einer so fantasievollen Geste fähig ist, kann schwerlich wild im Sinne von natur-wild sein. Sein Wildsein ist bewusster Widerstand gegen das von ihm erwartete Verhalten und nicht die Abwesenheit von Kultur.

Zusammengefasst stellt es sich so dar: der Eine ist wild und weiß es nicht, und der Andere weiß zu viel, um wild zu sein. Was im Bild bleibt, ist der Wunsch nach Begegnung, nach Verlängerung und Verewigung dieses Augenblicks, in dem beides zu gelingen scheint: Ich sagen können und wild sein, Natur und Kultur sein, sein eigenes Universum sein. Es geht also um ein tiefes Verlangen nach einer harmonischen Vollkommenheit, in der sich die Widersprüche in Luft auflösen.

Tillmans gelingt es, in der Fotografie das Unversöhnliche miteinander zu verbinden und zugleich den Augenblick in die Ewigkeit zu verlängern. Es ist das gewählte Medium, welches in der Lage ist, die Lücke zu schließen. Dieses Medium gehört in den Bereich des Kulturschaffens, in die Sphäre des Menschen. Das Bild ist je nach Intention des Künstlers Abbild, Metapher, Symbol, oder hat ein ganz anderes Verhältnis zum Dargestellten. Es ist aber immer vermittelt und nie das Ding an sich. Ein Bild von einem Hirsch ist selbst nicht Natur.

Ein solches Vermitteltes erhält seine Eigenart daraus, dass es sich zunächst auf ein Objekt bezieht, das von einem Subjekt wahrgenommen wird. Dieses überführt das Wahrgenommene in eine Form der Kommunikation (Bild, Text, Musik, Architektur, …).

Auffällig sind die beiden Stellschrauben, an denen sich aus einem Wahrgenommenen eine Vielzahl von Vermittelten machen lassen: das Wie der Wahrnehmung und das Wie der Kommunikation. In dieser Übertragung liegt der eigenständig schöpferische Akt.

Darüber hinaus überlagern sich bei Tillmans die Perspektiven der Betrachter. Ein Fotograf beobachtet hier zwei Wesen, die sich wiederum gegenseitig betrachten. Das Resultat ist das Bild, das wir nun sehen.

Dieses Layering der Betrachtungsweisen zwischen Natur, Umwelt und Kultur, und die ständige Übertragung von Wahrgenommenem in andere Medien zeichnet den Zustand eines gemeinschaftlich genutzten Raumes nach. Das Vorhandene oder Gestaltete wird erst in der gemeinsamen und individuellen Wahrnehmung und Nutzung zu einem Ganzen, in dem sich Widersprüche und Konflikte artikulieren, lösen und verbinden können.

Im Doppelbegriff der Landschaftsarchitektur erkennen wir dieses Layering wieder, das sich gleich in zweifachem Sinn von der Natur zu entfernen scheint. Der Begriff Landschaft bezieht sich auf eine urbar gemachte Natur. Diese Natur hat sich durch die Nutzung als Lebensgrundlage, durch Ackerbau, Viehzucht, Bergbau, Sicherungsmaßnahmen und Infrastruktur zu einer Landschaft entwickelt. Landschaft gehört also immer, auch wenn sie ohne den Präfix „Kultur-„ auskommen muss, durch ihre Entstehung und durch ihre Wahrnehmung in den Bereich der Kultur. Dies gilt auch dann, wenn sich ihre Aufgaben auf den Schutz der Natur beziehen. Wie bereits erwähnt, setzt gerade das Erkennen, Bewerten und Schützen von Natur ein sich selbst bewusstes, denkendes Wesen voraus.

Architektur und ihre begrifflichen lateinischen und griechischen Wurzeln bezieht sich auf ein vom Menschen ausgeführtes planvolles Handeln, das ein Verhältnis zwischen Raum und Zeit herstellt. Dabei werden ästhetische, gesellschaftliche, funktionale und zahlreiche weitere Belange zur Erfüllung einer Aufgabe miteinander verhandelt.

Unter dem Begriff der Landschaftsarchitektur ist somit ein Feld abgesteckt, das nicht nur den Bogen von der Natur zur menschlichen Umwelt und weiter zur Kultur des Menschen an sich schafft. Die Landschaftsarchitektur selbst ist das Medium, welches in der Lage ist, diese Brücke zu schlagen und die Widersprüche miteinander zu versöhnen.

Die Suche nach diesen perfekten Augenblicken, in denen sich Natur und Kultur, Außen und Innen verbinden, ist mir Antrieb in allen Medien, derer ich mich bedient habe.